Moin!

NACHRUF "Brandts Kniefall war eine große Sache"

Veröffentlicht am 08.10.2009 in Ortsverein
 

VON GERHARD GNAUCK (Welt online vom 05.10.2009)

Es ist noch nicht so lange her, da war Marek Edelman wieder mal bei Freunden in Warschau zu Gast. In einer Altbauwohnung, was in dieser Stadt fast zwangsläufig bedeutet: Dieses Haus lag außerhalb des Gettos. Dort also saß der alte Mann in seinem Pullover auf einem Ledersessel, rauchte eine Zigarette und erzählte. Nein, diesmal nicht vom Holocaust. Muss es nicht anstrengend sein, jahrzehntelang mit dem Titel "letzter lebender Anführer des Getto-Aufstands" herumzulaufen? Edelman hat diese Last mit Würde getragen. Wenn man ihn fragte, gab er gerne Auskunft. Nie abweisend, nur manchmal etwas unwirsch, wie es ein alter Mann sein darf, der eher zu viele als zu wenige Gesprächspartner hat.

"Vorwärts und nicht vergessen", dieser Liedvers von Bertolt Brecht hätte sein Motto sein können. Edelman wollte Zeugnis geben, aber nicht um des Gestern, sondern um des Heute willen. Wegen Bosnien zum Beispiel, wo er in den Neunzigerjahren mit einem Hilfsgütertransport hingefahren war, oder wegen Kosovo. Edelman war kein Sonntagsredner. Die Worte "Nie wieder", bei ihm klangen sie glaubwürdiger als bei irgendjemand sonst.

Doch jetzt, da er auf dem Ledersessel sitzt, in unserem letzten Gespräch, erzählt er von Willy Brandt. Da werden zwei Lebenslinien sichtbar, die dieses schreckliche Jahrhundert durchziehen und immer wieder versuchen, sich zu kreuzen. Willy Brandt, sagt er, ja, den habe ich ja hier in Warschau reden hören. Eine "gute, kommunikative Rede" vor vollem Saal. "Das war wohl 1937. Da gab es ein Jugendtreffen des Jugnt-Bund Cukunft, und Brandt kam als Vertreter der deutschen jungen Sozialdemokratie, die bereits illegal war. Er redete und brachte den Delegierten am Ende so einen Pfadfinderruf bei: Bravorakabumba, Bravorakabumba, dann nannte man seinen Namen, und dann riefen alle: Hurra!"

Der Jugnt-Bund Cukunft, so der jiddische Name, war die Jugendorganisation des linksgerichteten "Bunds", der stärksten der jüdischen Parteien in Polen. Edelman war Mitglied. Der wenige Jahre ältere Brandt wiederum war damals im Exil Leiter eines Internationalen Jugendsekretariats linker Gruppierungen. Edelman erinnert sich an weitere Details von Brandts Aufenthalt, etwa daran, dass er Probleme mit seinen (ohnehin gefälschten, norwegischen) Papieren hatte und von den Genossen einige Tage beherbergt werden musste, bis die Weiterreise gesichert war. "Er versteckte sich in der Gaststätte, wo Jankiel Goldstein Kellner war. Wenn geschlossen wurde, schob er die Tische zusammen, legte eine Matratze darauf, und Brandt übernachtete dort."

Edelman erinnert sich auch noch, wo Brandt damals aufgetreten ist: In einem Gewerkschaftshaus in der Zamenhof-Straße. Wenn das stimmt, dann hätte der junge Brandt einen Steinwurf von dem Ort entfernt gesprochen, wo er später als Bundeskanzler niederkniete. Doch er hätte das nicht einmal wissen können: Das frühere Getto-Gelände wurde 1943 bis zur Unkenntlichkeit zerstört und neu bebaut.

Ist das alles wahr? War es wirklich Willy Brandt, der da gesprochen hat? Der dort vor den Nazis gewarnt hat, wo er später wegen der Nazis niederknien musste? In der Literatur ist darüber nichts zu finden. Nachfragen bei den Söhnen und Willy Brandts Witwe stoßen ins Leere. Das Willy-Brandt-Archiv in Bonn bestätigt immerhin, der junge Politiker sei um die Jahreswende 1936/37 von einem Sozialistentreffen in Mähren mit dem Zug nach Danzig gefahren, vermutlich also über Warschau, um dann weiter an seinen Wohnort, nach Oslo, zu kommen. Ebenfalls ist überliefert, dass die Zeitschrift der jüdischen Jugendorganisation, "exklusiv", wie es heißt, einen Beitrag von Brandt abgedruckt hat.

Edelmans und Brandts Hoffnungen wurden zerschlagen. Was folgte, waren Krieg, Terror, Vernichtung. Marek Edelman geriet ins Warschauer Getto, wo er Führungsmitglied der konspirativen Jüdischen Kampforganisation ZOB wurde. Er kämpfte im Getto-Aufstand 1943, in einen roten Pullover gekleidet und mit zwei Revolvern bewaffnet, mit 220 Kameraden gegen die deutsche Übermacht. Als der Kampf zu Ende ging, als die SS alle Bunker und Keller ausgeräuchert hatte, floh Edelman aus dem Getto. Er versteckte sich, kämpfte ein Jahr später auch im Warschauer Aufstand. Nach dem Krieg wurde er in Lodz ein erfolgreicher Herzchirurg. Seine Frau und die Kinder emigrierten unter dem Druck antisemitischer Schikanen später nach Frankreich. Edelman entschied sich, in Polen zu bleiben: "Einer muss doch bei denen bleiben, die hier ums Leben gekommen sind."

Der alte Mann im Pullover erzählt weiter, und jetzt will ich natürlich wissen, wie er Brandts Kniefall in Erinnerung hat. Das kurz nach dem Krieg errichtete Mahnmal mit den kämpfenden Gestalten, vor dem der Kanzler 1970 kniete, ist offiziell kein Denkmal für die Opfer, sondern für die "Helden des Gettos", für die Aufständischen. Also für Leute wie Marek Edelman. Und auch hier erzählt der einstige Kommandeur etwas Neues. Im kommunistischen Polen war er offiziell ein Niemand. Doch mit einem deutschen Diplomaten seien er und zwei Freunde, spätere Bürgerrechtler, verabredet gewesen: Sie sollten zu Willy Brandt vorgelassen werden. "Wir sind dreimal zu dem Palais in der Foksal-Straße gefahren, wo er uns empfangen sollte, aber der Portier sagte jedes Mal, es gebe keine Anweisung, uns zu empfangen." Absurd: Willy Brandt darf den Mann nicht treffen, dem mehr als allen anderen Überlebenden der Kniefall hätte gelten sollen. Ein kommunistischer Türsteher blockiert unbewegbar den Durchgang.

Doch der Kniefall, von dem Edelmann dann aus dem Fernsehen erfuhr, war für ihn ein großes Ereignis. "Das war erschütternd. Brandt hat gezeigt, wie das deutsche Volk nach seinem Willen sein sollte. Eine große Sache." Brandt wiederum erwies auch Edelman seinen Respekt: Er schrieb wenig später ein Vorwort zur deutschen Ausgabe von "Schneller als der liebe Gott"; in diesem wunderbaren Buch hat die Schriftstellerin Hanna Krall das bewegende Leben Marek Edelmans verarbeitet.

Wieder vergehen einige Jahre. In Polen entsteht die Bürgerrechtsbewegung, die schließlich in die Solidarnosc-Bewegung mündet. Eine Linie vom jüdischen "Bund" bis heute: "Für mich war das eine Kontinuität, dieselben Werte", sagte Edelman und machte mit. Polens erster Aufbruch zur Demokratie endete 1981 mit der Verhängung des Kriegsrechts und der Inhaftierung Tausender Solidarnosc-Leute. Edelman ist darunter. Dagegen erhebt sich Protest. Auch Willy Brandt, damals noch SPD-Vorsitzender, meldet sich zu Wort und fordert Edelmans Freilassung, wenngleich mit jener merkwürdigen Befangenheit, jener übertriebenen Rücksichtnahme, mit der die deutschen Sozialdemokraten den regierenden Kommunisten oft gegenübertraten.

Schließlich die Wende. Auch hier stand der Herzchirurg aus Lodz nicht abseits. Er wirkte mit am Runden Tisch, er kümmerte sich für den Solidarnosc-Block um die Fragen ethnischer Minderheiten. Schließlich fand er seine politische Heimat in der Freiheitsunion, der Partei der liberalen Solidarnosc-Kräfte. Noch bis vor wenigen Jahren konnte man beobachten, wie er auf Parteitagen durch den Saal schlurfte. Ein politisches Tier. Auch an Gedenktagen trat er in Erscheinung. Vor der Wende verweigerte er sich den regierungsamtlichen Feiern zum Jahrestag des Getto-Aufstands und hielt, von der Polizei misstrauisch beäugt, zusammen mit Bürgerrechtlern alternative Gedenkfeiern ab. Noch in diesem Jahr führte er, bereits im Rollstuhl und mit einem Strauß Osterglocken im Arm, den Zug des Gedenkens an, der stets am 19. April vom Getto-Denkmal zum "Umschlagplatz" führt, wo all die Juden aus Warschau in Eisenbahnwaggons in den Tod geschickt wurden.

Jetzt ist er gestorben. In jener Altbauwohnung mit den Ledersesseln, im Haus der Psychologin Paula Sawicka, die ihn zuletzt pflegte, einer Mitstreiterin aus dem liberalen Solidarnosc-Milieu. In diesem Jahr hat Edelman noch ein Buch geschrieben, es Frau Sawicka in die Feder diktiert: "I byla milosc w getcie" ("Im Getto wurde auch geliebt"). Edelman erzählt darin das, wonach ihn bisher noch niemand gefragt hat: Liebesgeschichten aus dem Warschauer Getto. "Hassen ist leicht. Lieben verlangt Anstrengung und Hingabe", heißt es dort. Edelman erzählt wahre Begebenheiten: wie junge Männer eine ältere Ärztin retten, wie eine Mutter sich vergiftet, um das Leben ihrer Tochter zu erhalten, wie junge Frauen und Männer im Getto zueinanderfanden. Überall spielt Liebe eine Rolle, als Ursache, als Folge. Liebe ist möglich, auch in Zeiten der Pest und des Untergangs: Das ist das Vermächtnis des Marek Edelman.